Asteroid City | Kritik (2024)

Wes Anderson baut diesmal aus dem Reservoir des Science-Fictions-Genres ein neues fein justiertes Mikro-Universum mit Asteroidenkratern, Alienbesuchen und Atombombentests.

Was tun, wenn man mit ein paar nerdigen Kids wegen einer Motorpanne in einem Wüstenkaff standet, dessen einzige Attraktion ein Asteroidenkrater ist? Wenn man nicht weiß, wie man den Kindern den Tod der Mutter beibringen soll und die bevorstehende Unterbringung beim ungeliebten Großvater? Wenn plötzlich die Erde bebt und am Horizont gigantische Rauchpilze von Atombombentests aufsteigen? Wenn beim „Jugend forscht“-Event über dem Krater aus heiterem Himmel ein UFO aufkreuzt, aus dem ein kulleräugiger Außerirdischer klettert und den Asteroiden klaut? Und dann das Militär kommt, alle absperrt und den Ort zur Quarantänezone erklärt?

Von der Bühne in die Wüste

Das könnte die Story für ein klassisches Science-Fiction-Drama aus den Fünfzigern sein. Doch wenn sich Wes Anderson das amerikanische Sci-Fi-Genre vornimmt, kommt dabei natürlich etwas völlig anderes heraus. Anderson Asteroid City beginnt in Schwarzweiß mit Bryan Cranston als Moderator auf einer altmodischen Fernsehbühne. Hinter ihm sitzt Edward Norton im Cowboy-Pyjama an der Schreibmaschine und müht sich am Dialog für die Hauptfigur seines neuen Theaterstücks ab. Es geht um unterdrückte Gefühle und zufällige Begegnungen. Erst dann verwandelt sich die Leinwand in die Kino-Version des Stückes: in ein plakatives Wüstenpanorama mit roten Pappmaché-Bergen, grasgrünen Kaktusattrappen und pfeifender Dampfeisenbahn, die durchs künstliche Monument Valley tuckert.

Und so gleiten wir hinein in den unverwechselbaren Anderson-Kosmos mit seinen liebevoll gebastelten Kulissen, den Vintage-Farben, symmetrischen Bildkompositionen und langsamen Kamerafahrten, dem vertrautem Personal aus schmachtenden Melancholikern, neunmalklugen Kids, Herzensbrecher-Frauen und überforderten Uniformträgern. Diesmal stehen die Steenbecks im Zentrum des Geschehens. Vater Augie (Jason Schwartzman), ein schweigsamer Kriegsfotograf, ist mit seinen drei quirligen Mädels und dem Brainiac-Sohn Woodrow (Jake Ryan) in einem Wüstennest mit Tankstelle, Diner und Asteroidenkrater hängengeblieben. Eigentlich wollten sie den Großvater (Tom Hanks) besuchen. Doch jetzt ist das Auto kaputt und so quartieren sie sich im einzigen Motel des Ortes ein.

Ernste Gesichter in perfekten Outfits

Schwartzman, seit den Royal Tenenbaums Andersons Spezialist für tragikomische Stoiker, spielt auch diesmal den sad dad, der seinen Kindern den Tod ihrer Mutter verschweigt und ihre Asche in der Tupperdose mitnimmt. Während Augie einen zaghaften Flirt mit der Schauspielerin im Nachbar-Bungalow (Scarlett Johannson) beginnt, die dort im Badezimmer Filmszenen für eine neue Rolle probt, freundet sich Woodrow mit anderen hochbegabten Teenagern an, die zum Jugend-Stargazer-Wettbewerb angereist sind. Tilda Swinton gibt im weißen Kittel die optimistische Weltraumforscherin Dr. Hickenlooper, Jeffrey Wright ist der bullige General Grif Gibson, der zuerst den Forschergeist der jugendlichen Sternenstürmer lobt, nur um sie später einzusperren, damit die Welt nichts von ihrer Begegnung mit dem Alien erfährt. Zum mäandernden Lauf der Geschichte von Asteroid City gehört auch eine gestrandete Country-Band mit Banjos und Waschbrettspielern (einer davon ist Jarvis co*cker), und der geschäftstüchtige Motel-Manager (Steve Carell), der kuriose Automaten erfindet, die perfekt gemixte Martinis ausspucken – oder auch Anteilsscheine zum Kauf von Land rund um den Asteroidenkrater.

Die Dialoge sind wie immer bei Anderson schwarzhumorig-vieldeutig und werden mit ernsten Gesichtern in perfekt sitzenden Retro-Outfits vorgetragen. Für Film-Geeks gibt es zudem jede Menge Referenzen zur jüngeren Kinogeschichte. Manche sind so offensichtlich wie der tanzende Roadrunner-Vogel, der die Straßen von Asteroid City kreuzt, oder der augenzwinkernde Schriftzug „French Press International“ auf Augies Station Wagon, der auf Andersons letzten Film The French Dispatch[LINK] (2021) verweist. Natürlich werden auch amerikanische Sci-Fi-Klassiker wie Der Tag, an dem die Erde stillstand (The Day the Earth Stood Still, 1951), Orson Welles’ Radiohörspiel Krieg der Welten oder Spielbergs Unheimliche Begegnung der dritten Art (Close Encounter with the Third Kind, 1977) zitiert. Eine versteckte Hommage findet sich im eklektischen Soundtrack, zu dem auch Slim Whitmans schräger Jodelklassiker „Indian Love Call“ zählt –der Song, der in Tim Burtons Sci-Fi-Komödie Mars Attacks! (1996) die Köpfe der Killer-Aliens platzen lässt.

Alien-Besuch als Familientherapie

Den erzählerischen Fluss von Asteroid City bricht Anderson diesmal immer wieder, indem er in kurzen Sequenzen auf das TV-Bühnen-Set vom Anfang zurückspringt. Es gibt sogar eine Bühnentür, die direkt hinausführt aus dem Wüstenambiente – wie in der Truman Show. Aber auch dieser angedeutete Blick hinter die Kulissen der Traumwelt bleibt künstlich und rätselhaft. Einmal sitzen die Schauspieler mit einem Acting Coach (Willem Dafoe) zusammen, der Methoden ausprobieren will, wie sie im Schlaf authentisch schauspielern können. Da sagt Jason Schwartzman den schönen Satz: „You can’t wake up if you don’t fall asleep!“

Trotz eingebauter Meta-Ebene führt kein Weg hinaus aus Andersons streng choreografierten Kulissenwelten. Es sind fein justierte Mikro-Universen, in denen man sich wunderbar verlieren kann, und auch beim wiederholten Schauen neue Entdeckungen macht. Als schillernde Gesamtkunstwerke kreisen sie immer wieder um dieselben Motive: Trauer und Verlassenheit, Melancholie und Männlichkeit, abwesende Eltern, konkurrierende Geschwister, seltsame Freundschaften. Wer das liebt, wird Wes Andersons Stammpersonal und einigen prominenten Neuzugängen auch diesmal wieder gern dabei zuzuschauen, wie sie in Asteroid City mit Alien-Besuch surreale Trauerbewältigung und Familientherapie betreiben. Und höchstens einen vermissen, der eigentlich zum festen Anderson-Inventar gehört: Bill Murray musste Covid-bedingt kurzfristig von dem Projekt abspringen. Nicht weinen, Bill! Wes dreht schon wieder was Neues für Netflix.

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